Die Gräber der "kleinen Leute"

Heute Morgen bin ich, wie so oft, über den Melatenfriedhof spaziert. Irgendwie hatte ich heute aber ganz andere Gedanken als sonst. „Schuld“ daran war wohl ein Kapitel aus einem Buch über Biografiearbeit, das ich gerade lese. Es ging darin um „Oral Historie“, also um mündlich überlieferte Geschichte(n), die von Zeitzeugen erzählt werden, die aber (in der Regel) in keinem Geschichtsbuch erwähnt werden.

In diesem Kapitel fiel auch der Begriff „die kleinen Leute“ ein Begriff, den ich ja überhaupt nicht mag. Wer bestimmt denn bitteschön, wer groß ist und wer klein ist? Oder sagen wie mal so: “Wer hat überhaupt das Recht, so etwas zu bestimmen?“.  

Auf Melaten liegen ja nun mal viele Prominente, die immer wieder in einem Atemzug mit diesem Friedhof genannt werden und für die er ja auch bekannt ist. Hier liegen aber eben noch mehr Menschen, die nicht prominent sind. Von denen wir nichts wissen. Von denen wir höchstens die Namen auf den Grabsteinen lesen. Wenn wir uns denn überhaupt die Mühe machen, kurz innezuhalten.  

So kam ich also an das Grab eines Kinderarztes und habe mich gefragt, wie viele kleine Herzen seinetwegen weiterschlagen durften.

 

Ich stand am Grab des über alles geliebten Ehemannes und Vaters und dachte darüber nach, wie sehr er wohl das Leben dieser Menschen bereichert hat.

 

Oder zu einem treuen Mutterherz, das aufgehört hat zu schlagen und habe überlegt, was diese Frau ihren Kindern bedeutet haben muss.

 

Am Grab eines Architekten habe ich mir wunderschöne Häuser mit Gärten und riesige Brücken vorgestellt.

 

Und ich kam am Grab eines Fischhändlers vorbei und mir ging durch den Kopf, was ihm sein Beruf bedeutet haben muss, wenn er auf seinem Grabstein festgehalten wurde.

Mir kam aber auch in den Sinn, dass diese Inschriften nur ganz winzige Teilaspekte aus dem Leben dieser Verstorbenen beschreiben. Kein Mensch ist nur Kinderarzt, nur Architekt oder nur Fischhändler. Keine Frau ist nur Mutter, kein Mann ist nur Ehemann.

 

Es sind außerdem Brüder und Schwestern, Freunde und Nachbarn, es sind Arbeitskolleginnen, Klassenkameraden, Kegelschwestern, Skatbrüder, Menschen, die ein Ehrenamt bekleidet haben und Menschen, die sich in der Gemeinde engagiert haben.

 

Es sind Menschen, die Träume und Hoffnungen gehabt haben und Menschen, die große Tragödien erlebt haben. Ja, es sind gewiss auch Menschen dabei, die nicht so angenehme Zeitgenossen waren. Aber wer weiß denn schon, was für Geschichten und Schicksale dahintersteckten?

Die Welt, in der wir leben wird immer fortschrittlicher und immer vernetzter, sie dreht sich aber auch immer schneller und der einzelne Mensch geht immer mehr unter. Das ist so wahnsinnig schade, denn ich bin davon überzeugt, dass es keinen einzigen unbedeutenden Menschen auf dieser Welt gibt.

 

Und ich bin auch davon überzeugt, dass jeder dazu beitragen kann, dass Menschlichkeit und Respekt wieder mehr in den Vordergrund treten. Einfach indem man seinem Gegenüber ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenkt. Indem man nicht nur auf seine Fassade blickt, sondern sich auch mal für die Geschichte interessiert, die dahintersteckt. Und zwar nicht erst dann, wenn man an einem Grab steht.

 

Damit könnte jeder die Welt ein klein wenig besser machen.

 

Geht nicht? Doch, das geht. Es waren nämlich immer auch die „kleinen Leute“ mit daran beteiligt, wenn auf der Welt Großes bewirkt wurde.

 

 

Ich hoffe, ich konnte euch mit dieser Geschichte ein wenig zum Nachdenken anregen. Übrigens habe ich interessanterweise festgestellt, dass viele den Begriff "kleine Leute" gar nicht so negativ interpretieren, wie ich. Wie seht ihr das? Was geht euch durch den Kopf, wenn ihr von "kleinen Leuten" hört?

 

Kommentare: 0